Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Sie können sich sicher denken, dass ich noch immer sprachlos bin nach dem gestrigen Wählerzuspruch, der auch mich, zugegeben, überwältigt hat.
Ja, er hat mich überwältigt und nachdenklich gemacht.
Dieses große Vertrauen, dass Sie mir mit diesem Votum geschenkt haben - werde ich dem überhaupt gerecht werden können?
Das habe ich mich tatsächlich die ganze Nacht gefragt.
Auch wenn ich in der Öffentlichkeit oft unzugänglich und selbstsicher wirke, ganz ehrlich: dieses Vertrauen ermutigt mich natürlich - aber es macht mir auch ein wenig Angst.
Darf man so etwas äußern, als Bundeskanzlerin, ist das womöglich gar ein Eingeständnis des eigenen Unvermögens? - Ich denke nicht: ich möchte offen und ehrlich zu Ihnen sein, das bin ich Ihnen schuldig.
Wir haben in den letzten Jahren eine Menge liegen gelassen, auch einigen Mist verbockt, wie man so schön sagt - aber noch ist es ja nicht zu spät, für Deutschland, für Europa und die Welt.
Und Sie geben mir und uns eine weitere Chance, freilich ohne die irrelevant gewordenen Koalitionspartner der letzten Legislaturperiode. Und für diese Chance bin ich Ihnen aufrichtig dankbar.
Ich habe gestern Abend, und ich muss zugeben, bis weit in die Nacht hinein, mit Heiner Geissler gesprochen, der Ihnen allen ja ein Begriff sein dürfte. Und ich habe ihn gefragt:
Was sind denn die großen Aufgaben der nächsten Zeit? -
"Gerechtigkeit!" - Die Gerechtigkeit ist wohl eines der größten Themen und ich gebe zu, dass wir diesen Begriff bisher viel zu eng gefasst haben.
Sicher können wir mit einem flächendeckenden Mindestlohn von etwa 10 € in der Stunde, wie ihn die Linke zurecht fordert, ein Stück weit Gerechtigkeit in unser Land bringen. Das werden wir auch tun.
Doch warum sehen wir all zu selten über unseren Tellerrand hinaus?
Ich habe in der Vergangenheit Entscheidungen als alternativlos und drängend bezeichnet, für die wir uns durchaus ein wenig mehr Zeit hätten nehmen müssen.
Ich habe viel gelernt in den letzten Jahren, insbesondere, was die Ratgeber anlangt, die sich einer Regierung allzu schnell andienen und dann auf eilige Entscheidungen drängen.
Wir haben Milliarden von Euro in einen Rettungsschirm gesteckt, der angeblich Griechenland helfen sollte, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.
Der größte Teil dieses Geldes kam allerdings nie bei einem Griechen an, es wurde den Banken ausgezahlt, bei denen sich Griechenland verschuldet hatte. Stellen Sie sich das einmal vor: den Banken, die wir zuvor mit Milliarden Staatsgeldern gestützt haben, haben wir nochmals aus der Misere geholfen und in Griechenland wird ein riesiger Staatssektor zusammengeschrumpft, die Arbeitslosigkeit wächst und wächst. So geht es nicht weiter, das ist nicht gerecht.
Ganz ehrlich: Gestern abend habe ich mich geschämt, Ihnen so unüberlegte Schritte einmal als alternativlos "verkauft" zu haben. Ich bin mir sicher, dass es für einen Schuldenschnitt und ein umfassendes Konjunkturprogramm in Griechenland noch nicht zu spät ist.
Während meine Partei-Freunde gestern auf der Bühne den Wahlsieg ausgelassen feierten, wurde ich nachdenklich. Ich bin wohl ohnehin kein Feiergemüt.
Aber als Landesmutter machte mich das betrübt: hier die feiernden jungen Menschen, die so viel Hoffnung daran setzen, dass unser Wohlstand weiterblüht, und dort: in Griechenland junge Menschen, die ihre Perspektive verlieren, weil wir Ihnen ein unmenschliches Sparprogramm aufzwingen.
So kann es nicht weitergehen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, und so verstehe ich auch Ihr gestriges Votum.
Schließlich haben WIR diesen Kurs eingeschlagen, nun müssen wir ihn auch korrigieren!
Heiner Geissler wiederholte immer wieder den einen Satz, der mir nicht mehr aus dem Kopf ging: Angela, wir können solche großen Entscheidungen nicht über die Menschen hinweg treffen, bloß weil sie uns einmal ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel geschenkt haben.
Vielleicht klingt das sentimental oder kitschig: lassen Sie uns Ihre gestrigen Kreuzchen als Beginn einer langen Freundschaft, als Start eines fortwährenden Dialogs begreifen. Denn ich, die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, ich weiß ja viel zu wenig von Ihnen, Ihren Nöten, Ängsten und Wünschen.
Ich bin allzuoft ratlos, wenn all die Themen und Fragen auf mich einstürmen.
Dann stemme ich mich gegen etwas, nur weil ich es mir eben nicht vorstellen kann: Adoptivkinder in gleichgeschlechtlichen Beziehungen zum Beispiel. Dabei hätte ich auch ganz gerne zwei Väter gehabt.
Am Ende muss ich vielleicht auch nicht immer die richtige Lösung allein parat haben.
Am Ende muss ich vielleicht auch nicht immer die richtige Lösung allein parat haben.
Ich möchte IHNEN wieder mehr zuhören, schließlich steckt unser Land voller Ideen. - Aber wie kann das gehen, habe ich mich gefragt?
Es kann funktionieren.
Ich werde einfach in den nächsten vier Jahren viel weniger Lobbyisten empfangen als bisher, das waren die schlechtesten und bedrängendsten Ratgeber, die man sich vorstellen kann.
Ich bitte SIE, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, mir Vorschläge zu machen, zu welchen Themen wir uns allwöchentlich zu Runden Tischen im Bundeskanzleramt treffen können. Ich werde sicher nicht immer selbst persönlich anwesend sein - aber am Ende bin ich ja weit weniger wichtig, als das gestrige Wahlergebnis suggeriert.
Ich habe eine Reihe interessanter Berater gefunden, die zum Teil viel klügere Gedanken haben, als ich sie mir erträumen könnte. Ich freue mich, dass schon ab nächster Woche solch illustre Köpfe wie Harald Welzer, Juli Zeh, Peter Scholl-Latour, Judith Holofernes, Klaus Theweleit und viele andere ein kleines temporäres Büro im Kanzleramt eröffnen werden.
Ich habe so viele Fragen:
Wie helfen wir den Abermillionen Flüchtlingen, die sich in Afrika auf tödliche Reisen begeben, um ein wenig an unserem Wohlstand teilzuhaben, den wir im Grunde genommen nur auf ihre Kosten genießen können?
Wie retten wir unseren Planeten vor der Zerstörung durch immer weiter forciertes Wachstum, wie nutzen wir unsere natürlichen Ressourcen nachhaltig und gewissenhaft?
Können wir den Klimawandel stoppen?
Wie befrieden wir unlösbar scheinende Konflikte, die wir zum Teil selber geschürt, forciert oder verschuldet haben?
Wie schaffen wir eine solidarische Weltgemeinschaft, in der es sich für alle in Würde leben lässt, in der das Fremde keine Gefahr darstellt, in dem jeder Mensch satt und anerkannt ist, in der Solidarität kein Wort aus der Vergangenheit ist?
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Womöglich scheinen Ihnen diese Worte noch zu sehr im Rausch des Erfolges geschrieben.
Vielleicht klingt das alles ein wenig naiv, vielleicht sind das die Fragen eines Schulkindes und nicht die einer Bundeskanzlerin. Mag sein. Ich habe mich entschieden, diesem Schulkind wieder einen Platz zu geben, in meinem Leben, in meinem Beruf, zum Wohle unseres Volkes und der Völker, mit denen wir uns in Zukunft friedlich diese Erde teilen.
Kinder fragen sehr viel. Warum? Wieso? Sie lassen sich nicht so schnell mit schnellen Antworten abspeisen. Ich werde viel mehr Fragen haben in nächster Zeit als alternativlose Antworten und Lösungen. Lassen Sie uns die Antworten gemeinsam finden und das Abenteuer Demokratie noch einmal beginnen.
Ich freue mich auf die nächsten vier Jahre schwieriger und wunderbarer Zusammenarbeit mit Ihnen allen!
Von Herzen - Ihre Bundeskanzlerin Angela Merkel